Von Sascha Karberg
„Stellen Sie sich vor, eine Brücke fällt zusammen, und Sie sollen sie aus den Einzelteilen wieder aufrichten“, sagt Maya Schuldiner, Forscherin am Weizmann Institut of Science in Rehovot, Israel. „Doch Sie haben bei 70 Prozent der Teile keine Ahnung, welche Funktion sie haben.“ Vor dem gleichen Problem stehen Mediziner, die einen kranken Menschen behandeln wollen, denn nach wie vor kennen Forscher die Funktion von 70 Prozent der Proteine des menschlichen Körpers nicht. „Proteine sind die Bausteine des Lebens, sie führen alle lebenswichtigen Prozesse im Körper aus, aber von den 120.000 kennen wir nur die Funktion von 30 Prozent“, sagt Schuldiner. „Bevor wir in der Medizin irgendeinen Fortschritt erzielen können, müssen wir die basalen Vorgänge verstehen, herausfinden, was jedes einzelne Protein tut.“
Bis vor Kurzem brauchten Forscher rund fünf Jahre, um die Funktion eines unbekannten Proteins herauszufinden. Schuldiner hat den Prozess hundertfach beschleunigt, indem sie Roboter einsetzt, die an einem Tag tausend Experimente durchführen können, für die ein Doktorand Jahre gebraucht hätte. Inzwischen entschlüsselt Schuldiners Labor die Funktion von zwei bis drei Proteinen pro Jahr.
Schlüssel zur Erkenntnis – Zusammenarbeit
Aus technischer Sicht könnte noch eine weitaus größere Anzahl von Proteinen pro Jahr entschlüsselt werden. Die Roboter produzieren viel mehr Daten, als das Dutzend Mitarbeiter in Schuldiners Labor anschauen, verstehen und interpretieren kann. So sehr die Roboter die Experimente beschleunigen, es braucht menschliche Gehirne, um die Ergebnisse zu verstehen. „Diese Kapazität ist unser Flaschenhals“, sagt Schuldiner. Deshalb setzt sie auf internationale Zusammenarbeit. Bedingungslos stellt Schuldiner ihre Roboter auch anderen Labors zur Verfügung. „Dadurch können viel mehr Daten analysiert und viel mehr Proteinfunktionen in kürzerer Zeit entschlüsselt werden.“ In den letzten zwei Jahren hat Schuldiner mit 30 Labors zusammengearbeitet.
Eines davon ist das Zellbiologie-Labor von Marius Lemberg an der Universität Heidelberg. „Die Art und Weise, wie unsere Zusammenarbeit zustande kam, ist eine großartige Geschichte über Freundschaft in der Wissenschaft“, sagt Lemberg, der Schuldiner nicht kannte, bis ihr Labor Informationen über ein Gen namens Ypf1 veröffentlicht hatte. Lembergs Interesse war geweckt, und über eine gemeinsame Bekannte in der Forschung kam der Kontakt zustande. „Seitdem arbeiten wir zusammen, anstatt uns Konkurrenz zu machen.“
Lemberg arbeitet an proteinabbauenden Enzymen, so genannten Proteasen, die in der Zellmembran sitzen. Ypf1 ist eine Protease, die an der Regulation der Nähstoffaufnahme über die Zellmembran beteiligt ist – ein Prozess, der auch in die Entstehung von Alzheimer involviert ist. Ohne Ypf1 sammeln sich in der Membran zu viele Proteine an, die als Nährstofftransporteure fungieren. Die Folge: Der Nährstoffhaushalt der Zelle gerät durcheinander.
Um solche Zusammenhänge zu verstehen, braucht es biochemische, zellbiologische und molekularbiologische Techniken. „Der Input aus dem Schuldiner-Labor hat uns geholfen, unsere Standards in Richtung modernster Hefegenetik zu verbessern“, sagt Lemberg. „An der Zusammenarbeit habe ich vor allem geschätzt, dass Marius Lemberg einer der wichtigsten Experten auf dem Gebiet der membranständigen Proteasen ist“, sagt Schuldiner. „Die Zusammenarbeit hat uns erlaubt, einen hohen wissenschaftlichen Standard zu erreichen“, stimmen Lemberg und Schuldiner in ihrem Urteil über die deutsch-israelische Zusammenarbeit überein.
Kreativität aus Geborgenheit
Fremd ist Schuldiner die internationale Forschergemeinde keineswegs. Am Weizmann Institute of Science arbeiten Forscher aus vielen Ländern. Schuldiner arbeitete sechs Jahre als Postdoc an der Universität Kalifornien in San Francisco, dann zog es sie zurück nach Hause – sie vermisste Israel, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Sprache, ihre Kultur. „Wissenschaft ist wie eine Kunst. Und um kreativ zu sein, muss man an einem Ort sein, an dem man sich geborgen fühlt.“ Dennoch zögerte sie, ihre Kinder in einem Land mit unsicherer politischer Situation großzuziehen. „Es hat mich sehr beschäftigt, dass meine Söhne dann zur Armee werden gehen müssen und sich selbst – und was mindestens genauso schlimm ist – andere verletzen könnten.“ Niemand wolle seine Kinder in so einer Umwelt aufziehen. „Aber letztlich hat jedes Land seine Probleme und die Verbindung zu unserer Heimat gibt solche Stärke, dass ich meine Kinder lieber in einem Land aufziehen wollte, wo sie willkommen und ein Teil der Gesellschaft sind.“
Nach der Schule hatte Schuldiner eigentlich Ärztin werden wollen. Sie hatte sogar schon einen Studienplatz in Medizin. Doch im Urlaub, zwei Wochen vor Beginn des ersten Semesters, las sie am Strand in Thailand ein paar populärwissenschaftliche Bücher über Physik, Chemie und Biologie. „Und plötzlich begriff ich, dass ich nicht lernen will, was andere herausgefunden haben, sondern ich wollte diese Entdeckungen selbst machen“, erzählt Schuldiner. „Diese Erkenntnis traf mich mit einer solchen Leidenschaft, dass ich einen Tag vor Semesterbeginn von der Medizin zur Biologie wechselte.“ Wer weiß, wo die Proteinforschung heute stünde, hätte Schuldiner am Strand das falsche Buch gelesen.