Autorin: Karola Klatt
„Religion ist eine männliche Institution“, urteilt Noah Chen über Judentum, Islam und Christentum. Das könne man zum Beispiel am Verbot weiblicher Priesterschaft in den monotheistischen Religionen sehen. Die 17-Jährige aus Cholon hat gerade ihre High School, die Israel Arts and Science Academy in Jerusalem, abgeschlossen. Schon als Oberschülerin interessierte sie sich für eine feministische Perspektive in der Judaistik. Selbstbewusst, eloquent und verständlich trägt sie an einem heißen Augustnachmittag 2015 in einem Besprechungsraum des Akademischen Auslandsamtes der Universität Potsdam vor, was sie über den Platz von Frauen in den Kulten der alttestamentarischen Zeit herausgefunden hat. Mit ihren Bibelstudien hat sie nicht nur den zweiten Platz der diesjährigen israelischen „Young Scientists Competition“ gewonnen – vergleichbar mit dem deutschen Wettbewerb „Jugend forscht“ –, sondern auch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beeindruckt, das jährlich an drei Arbeiten aus dem israelischen Schülerwettbewerb einen Sonderpreis vergibt. Die ausgezeichneten Schüler und Schülerinnen dürfen sich über eine Einladung zu einem dreiwöchigen Aufenthalt in Deutschland freuen, bei dem sie nicht nur Land und Leute kennenlernen, sondern auch viele Universitäten und wissenschaftliche Institutionen besuchen.
Angeleitet von Lehrern und einem Wissenschaftler beschäftigte sich Chen in ihrer Forschungsarbeit mit dem Umbruch vom Polytheismus zum Monotheismus. Bevor der Monotheismus sich durchsetzte, glaubten die Menschen in Kanaa, jener Region im Nahen Osten, die einer der Hauptschauplätze der Erzählungen des Alten Testaments ist, an viele Götter. Chen untersuchte das Auftauchen der Göttin Ashera im Alten Testament wie auch in den rabbinischen Texten des Talmud. Ashera war in der kanaanitischen Kultur eine Muttergöttin, Frau des obersten Gottes und wurde als Fruchtbarkeitsgöttin verehrt. Dass sie auch noch in der Zeit des ersten Tempels, als die Texte des Alten Testaments entstanden, angebetet wurde, darin sind sich die Gelehrten heute einig. Später aber, so der Konsens, zeigte die Verfolgung der Anbetung von Götzen und Symbolen Wirkung, und die Göttin und ihr Mythos gerieten in Vergessenheit. Chen weist in ihrer Textanalyse jedoch nach, dass die Rabbiner, welche die späteren jüdischen Schriften des Talmud verfassten, Ashera eher ausgelassen haben, als dass sie von ihr nichts wussten. Gänzlich vergessen war Asheras Mythos nach Chens Auffassung auch in dieser späteren Zeit noch nicht, denn auch in den rabbinischen Texten tauchen sowohl die Symbole, die Ashera repräsentieren, auf als auch die Beschreibung einer Ehrehrbietung, die große Ähnlichkeit mit der Anbetung der Ashera aufweist.
Neben Noah Chen haben sich in diesem Sommer auch Rimaa Dschabarin vom Gymnasium Atid Alahliya in Em El Fachm und Ta’ili Hardiman, ebenfalls von der Israel Arts and Science Academy Jerusalem, auf den Weg gemacht.
Dschabarin überzeugte mit einer Arbeit zur Altersbestimmung von Olivenbäumen, für die sie beim israelischen Wettbewerb eine lobende Erwähnung erhielt. Wachstumsringe sind bei diesen Bäumen selbst mithilfe eines Mikroskops nur schwer auszumachen und zu deuten. Die Schülerin untersuchte, ob man zu einer Definition der Baumringe kommen kann, wenn man die Methode der radiometrischen Datierung (14C-Methode) anwendet. Doch auch die Radiokarbonmethode erwies sich in der Analyse am frischen Holz als ungenau. So wurde die äußerste, jüngste Schicht eines 2013 geschlagenen Olivenbaumes mit dieser Methode an einer Stelle auf das Jahr 1985, an einer anderen dagegen auf das Jahr 2009 datiert.
Die dritte Jungforscherin Hardiman widmete sich dem Bösen im Film und wurde für ihre philosophische Arbeit beim israelischen Jugendwettbewerb mit einem Spezialpreis für Kreativität geehrt. Das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik werde im westlichen Kulturkreis eher moralistisch gesehen, erklärt sie: „Das Gute und Wahre ist seit den Griechen und Römern zugleich auch das Schöne. Beim Schauen von Filmen nehmen wir jedoch einen eher autonomistischen Standpunkt ein, der uns erlaubt, Ethik und Ästhetik getrennt voneinander zu beurteilen und einen Film mit unmoralischem Inhalt dennoch künstlerisch ansprechend zu finden.“ Fasziniert von der Hingabe, mit der sich Kinozuschauer willentlich dem Bösen aussetzen, analysierte die Schülerin drei Filme aus verschiedenen filmischen Epochen, die das Böse darstellen. Sie kommt zu dem Schluss, dass Zuschauer im Erleben von Filmen zwischen zwei philosophischen Ideen hin- und hergeworfen werden ohne dies überhaupt zu bemerken. Während rational eine Trennung zwischen ethischem und ästhetischem Urteil vorgenommen wird, gilt auf der emotionalen Ebene nach wie vor das Gute als das Schöne. Das zeige, wie brüchig unser Denksystem insgesamt sei.
Seit 2013 und zunächst bis 2016 richtet das Kursbüro im Akademischen Auslandsamt der Universität Potsdam das Programm für die jungen Gewinner und Gewinnerinnen des BMBF-Sonderpreises aus, der erstmals 2009 vergeben wurde. „Wir wollen Deutschland als facettenreichen Forschungs- und Studienstandort vorstellen und das Interesse an einem Studium in Deutschland und speziell auch in Potsdam wecken“, sagt Martin Müller, Kurskoordinator im Akademischen Auslandsamt der Universität Potsdam. Die jungen Teilnehmerinnen werden als Multiplikatorinnen gesehen, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus dem dreiwöchigen Aufenthalt mit Gleichaltrigen in Israel teilen werden.
Der Besuch von Chen, Dschabarin und Hardiman ist intensiv vorbereitet worden. Universitäten und Forschungseinrichtungen, die zu den Themengebieten ihrer Facharbeiten passen, wurden ausgewählt und profilierte Wissenschaftler für ein Treffen mit den drei jungen Frauen angefragt. Auch weitergehende Interessen und Wünsche wurden im Vorfeld eingehend abgefragt, um ein möglichst individuelles Programm zusammenstellen zu können. So interessiert sich Dschabarin zum Beispiel auch für Astrophysik und Luft- und Raumfahrt. Besuche des Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam (AIP) und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) in Adlershof sowie ein Treffen mit Prof. Dr. Mirko Hornung am Lehrstuhl für Luftfahrtsysteme der Technischen Universität München sind deshalb für sie ins Programm gekommen. Hardiman dagegen engagierte sich im Debattierteam ihrer Schule und nahm auch an internationalen Wettbewerben teil. Sie wird die Gelegenheit bekommen, beim Debattierclub der Humboldt-Universität in das studentische Debattieren hineinzuschnuppern.
Auch persönliche Wünsche versucht das Kursbüro zu erfüllen. Ein Teilnehmer in einem früheren Jahr wollte den Wurzeln seiner Familie in Deutschland nachspüren und bat darum, die Heimatstadt seiner Großeltern sehen zu dürfen. Um ihm diesen Wunsch zu erfüllen, wurde kurzerhand eine zusätzliche Station in die Reiseroute aufgenommen.
Die diesjährigen Ausgezeichneten erleben in diesen Tagen ein reichhaltiges Programm in den Städten Potsdam, Berlin, München und Mainz mit Workshops und Meetings an Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie Besuchen einer Ausgrabungsstätte, von Film- und Fernsehstudios und Museen. Städtebesichtigungen und geführte Touren sind ebenso dabei wie Orte, die besonders bei jungen Deutschlandbesuchern ankommen wie zum Beispiel die Bunker der Berliner Unterwelten oder das stillgelegte Flugfeld Tempelhof mitten in Berlin. Begleitet werden die drei Israelinnen auf der gesamten Reise von zwei studentischen Tutorinnen. Obwohl gerade Semesterferien sind, sollen sie so dicht wie möglich an die studentische Kultur herangeführt werden. „Im engen Kontakt mit jungen Menschen, die selbst noch studieren, fühlen sich die Teilnehmerinnen einfach wohler als mit uns älteren Semestern“, resümiert Martin Müller seine nunmehr dreijährigen Erfahrungen mit dem Austausch.
1.357 israelische Staatsbürger waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Wintersemester 2013/2014 an einer deutschen Hochschule eingeschrieben. In der Gunst junger Israelis bei der Wahl eines Auslandsstudienortes kam im Jahr 2012 nach Zahlen der UNESCO Deutschland auf den vierten Platz hinter Jordanien, den USA und Italien. Da Israel kein Mitgliedsland im Erasmus-Programm ist, gestaltet sich die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen und die Unterstützung von Austauschstudenten aber schwierig und muss in Kooperationsverträgen zwischen den Hochschulen geregelt werden. Auch das noch zu geringe Angebot an internationalen Studiengängen in Deutschland und die Sprachbarriere stellen für viele Israelis ein Hindernis dar.
Für Chen und Hardiman beginnt nach dem Sommer zunächst der zweijährige Militärdienst, nur für die arabische Israelin Dschabarin steht eine Studienentscheidung unmittelbar bevor. Deutschland mit seinen Leistungen im Bereich Luft- und Raumfahrt erscheint ihr attraktiv, auch ihre Eltern würden es gern sehen, wenn sie hier studieren würde.
Hardiman zieht es dagegen eher nach Großbritannien, ihr Respekt vor dem Erlernen der deutschen Sprache ist groß, obwohl sie zugeben muss, dass „wer philosophische und historische Quellen im Original studieren will, kaum an Deutsch vorbeikommen wird.“
„Ich werde nach dem Militärdienst dorthin gehen, wo es für mich das beste Studienangebot gibt“, sagt Chen diplomatisch. Deutschland habe für sie in zweierlei Hinsicht viel anzubieten: Einerseits verfüge es über eine gut etablierte akademische Welt, andererseits sei es in seiner Multikulturalität und Offenheit aber auch ein „cooler Ort, an dem ich gerne einmal leben würde.“