Von Ulla Thiede
„Ich kam mir wie ein Kuckuck im Nachtigallennest vor“, sagt Miriam Gillis-Carlebach. Die Stimme der 93-Jährigen zittert ein wenig, als sie der Besuchergruppe von der Universität Magdeburg von ihrem Leben im Kibbuz erzählt. Es begann 1938. Israel war noch britisches Mandatsgebiet Palästina, und in ihrer deutschen Heimat steckten die Nazis jüdische Geschäfte und Synagogen an. Sie selbst kam aus Hamburg, aufgewachsen in einem Rabbinerhaushalt, und befand sich nun in der Fremde, fern von Eltern und Geschwistern. Der Anfang im gelobten Land fiel ihr schwer.
Miriam Gillis-Carlebach ist mehr als eine Zeitzeugin. Wenn sie zwischen vollgestopften Bücherregalen vor den Studenten und Wissenschaftlern aus Magdeburg sitzt, hat sie noch einen anderen Hut auf: Sie spricht als Gründerin des Joseph-Carlebach-Instituts. Diese Forschungseinrichtung an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan bewahrt das Erbe von Joseph Carlebach, Oberrabbiner von Hamburg, der 1942 bei Riga von Nazi-Schergen erschossen wurde. Er war ihr Vater.
Die Bar-Ilan-Universität (BIU) wurde 1955 mit einem Schwerpunkt auf Jüdische Studien gegründet, das zweite Standbein waren von Anfang an die Naturwissenschaften. Das zeigt sich bereits im Logo der Hochschule: Es stellt ein stilisiertes Mikroskop und eine Torah-Rolle dar, die gleichzeitig die hebräischen Anfangsbuchstaben des Namens bilden. Die BIU in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tel Aviv ist Israels schnellstwachsende Universität: Rund 34.000 Studierende sind an ihr eingeschrieben, davon 5500 an den vier regionalen Colleges. Sie sollen auch Israelis, die in der Peripherie leben, ein Studium ermöglichen, wenigstens bis zum Bachelor-Abschluss.
Die Forschungszusammenarbeit mit Deutschland ist vielfältig und teilweise über Jahrzehnte gewachsen. Im Büro von Schlomo Havlin hängen in Bilderrahmen knallbunte Strukturen auf schwarzem Grund, die an Kristalle unter dem Mikroskop erinnern. „Das sind Modelle, die wir in den 80er Jahren entwickelt haben, um die Mechanismen komplexer Systeme zu verstehen“, erklärt der Physiker. Er legte damit die Anfänge für ein Wissenschaftsgebiet, das heute als „Network Science“ bekannt ist.
Eine der langjährigsten Kooperationen verbindet Havlin mit dem Physiker Armin Bunde von der Universität Gießen. Die Begegnung mit ihm 1984 auf einer Konferenz im US-amerikanischen Boston war wie ein Steinwurf ins Wasser, der immer größere Kreise zog. „Wir haben mindestens 100 gemeinsame Forschungspapiere veröffentlicht“, sagt Havlin, der drei Mal Stipendiat der deutschen Humboldt-Stiftung war. Später leitete er ein Minerva-Zentrum an der BIU, das die deutsche Minerva-Stiftung finanzierte. Aber er hat auch direkt Mittel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten.
Ein enger Partner Havlins ist heute auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die Förderung läuft noch über das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm. Zusammen mit seinen Kollegen Hans Joachim Schellnhuber und Jürgen Kurths haben sie ein Modell zur El-Nino-Prognose entwickelt, das mit 75-prozentiger Wahrscheinlichkeit arbeitet. Das Wetterphänomen, das im Winter 2014 auftrat, sagten sie mit einem Rekordvorlauf von einem Jahr voraus.
Zwei Minerva-Zentren befinden sich heute an der BIU: das „Emmy Noether Minerva Mathematics Institute“ arbeitet bereits seit 1992, das zweite unter Leitung des Archäologen Aren Maeir erforscht seit Herbst 2015 die Beziehungen zwischen Israel und Aram, dem Reich der Aramäer, in biblischer Zeit. Ko-Direktorin ist Angelika Berlejung von der Universität Leipzig.
„Unser Ansatz geht weit über die historische Forschung und Archäologie hinaus“, erklärt Maeir. „Beide Kulturen waren im Altertum bedeutend, haben aber gleichzeitig bis heute einen starken Einfluss auf die christliche Welt.“ So untersucht man an dem Zentrum auch Fragestellungen etwa der Soziologie, Anthropologie und Philosophie. Kleine Gruppen aramäischer Muttersprachler leben bis heute in Syrien, Irak und der Türkei, doch die Bürgerkriege in diesen Ländern bedrohen auch ihre Existenz. „Vielleicht können wir mit unserer Arbeit ein wenig helfen, das Erbe der Aramäer in einigen Aspekten zu bewahren.“
Die deutsch-israelischen Förderprogramme haben Maeir mit Kollegen zusammengeführt, die heute seine Freunde sind. Zwei Mal erhielt er bereits Mittel von der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (GIF), zuletzt für ein Projekt mit dem Archäologen Josef Maran von der Universität Heidelberg. Sie untersuchten den Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit im östlichen Mittelmeer anhand der Ausgrabungsstätten in Tiryns in Griechenland und am Tel Es-Safi östlich von Ashdod in Israel. Es-Safi könnte die biblische Stadt Gath sein, aus der der Philister Goliath stammen soll.
Die BIU will gläubigen Juden während ihres Studiums einen Lernort bieten, an dem sie sich wohlfühlen. „Wenn sie dann hier sind, erfahren sie, dass die nicht-religiösen Kommilitonen auch gute Menschen sind“, sagt der Physiker Havlin mit einem Augenzwinkern. Er trägt selbst eine Kippa. „Gläubige und nicht-gläubige Juden haben nicht viele Orte, wo sie interagieren. Allenfalls die Armee, vorher in der Schule sind sie auch getrennt.“ Dabei beträgt der Anteil der religiösen Studierenden nur noch etwa 40 Prozent. Immerhin drei Prozent der Studierenden sind Araber, und gerade hat die erste arabische Professorin die Leitung des Seminars für englische Literatur und Sprache übernommen.
Interdisziplinäres Arbeiten wird an allen Forschungszentren groß geschrieben, ob am Gonda Multidisciplinary Brain Research Center, wo auch Sprachwissenschaftler arbeiten, oder dem Institute for Nanotechnology and Advanced Materials, an dem der Physiker Aviad Frydman einen Lehrstuhl hat. Er hat in den 17 Jahren seiner Zeit an der BIU erlebt, wie in die Infrastruktur der Naturwissenschaften stark investiert wurde. Das zeigt sich schon an der Vielzahl neuer Gebäude, die nördlich des alten Campus errichtet wurden. Auch ein Konferenzzentrum von Daniel Libeskind ist darunter, das an einen noch nicht fertig zusammengesetzten Zauberwürfel erinnert.
Wie Zauberei wirkt es für Laien auch, was Frydman und einem internationalen Forscherteam gelungen ist. Sie haben den Higgs-Mechanismus, der aller Materie ihre Masse verleiht, erstmals im Supraleiter nachgewiesen. Das war bisher nur im Teilchenbeschleuniger des CERN in Genf gelungen. Möglich machten dies der Physiker Martin Dressel von der Universität Stuttgart, einer der seltenen Experten für Terahertz-Spektroskopie, und eine Supraleiter-Probe aus dem Labor von Frydman, die aus einem hundert Atomlagen dünnen Film von Niobnitrid und Indiumoxid bestand. Das Experiment benötigt nur so viel Platz wie auf einem Schreibtisch. Dank GIF-Förderung setzen Dressel und Frydman nun ihre Forschung fort.
Das Joseph-Carlebach-Institut unterhält seit 20 Jahren enge Verbindungen zu den Universitäten Hamburg und Magdeburg. Auf internationalen Konferenzen und Seminaren erforschen die Teilnehmer deutsches jüdisches Leben vor dem Holocaust. Gillis-Carlebach, die als Erziehungswissenschaftlerin an der BIU wirkte, hat im Herbst 2015 die Institutsleitung an den Judaisten George Kohler übergeben. Er will eine „Sommeruniversität“ aufbauen, zu der deutsche Studenten vier Wochen nach Israel eingeladen werden, um Judaistik zu studieren sowie die Menschen und das Land kennenzulernen.
Kohler hat auch Forschungslücken entdeckt: „Das religiöse Leben der deutschen Juden ist in Deutschland fast unbekannt.“ Das Besondere an Joseph Carlebach war, dass er sich als orthodoxer Rabbi nicht von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzte, sondern Humanisten wie Lessing und Schiller verehrte. Diese Denktraditionen sind wiederum in Israel nicht so bekannt. „Ich bin überzeugt, dass unser Institut diese Wissenslücken gut füllen kann.“