Diplomatie im Hintergrund

War die Wissenschaft Wegbereiter für die Politik? Dan Diner, Norbert Frei und Yfaat Weiss im Gespräch über die verwickelte Geschichte der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland

Gesprächsleitung: Karen Schönwälder | Protokoll: Ralf Grötker

Schönwälder: Kann man sagen, dass die wissenschaftliche Kooperation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel ein Vorreiter oder sogar ein Ersatz für diplomatische Beziehungen gewesen ist?

Diner: In der öffentlichen Wahrnehmung ist das sicherlich so. Aber in der Realität war es komplizierter. Am gleichen Tag, an dem wir hier in Berlin auf Einladung der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Festakt anlässlich von 50 Jahren deutsch-israelischer Wissenschaftsbeziehungen begehen – also am 10. September –, ist 1952 in Luxemburg das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel geschlossen worden. Nach 1952 geriet der Annäherungsprozess jedoch wieder ins Stocken. Erst mit dem Besuch des Physikers Otto Hahn, der 1959 mit einer Delegation der Max-Planck-Gesellschaft das Weizmann Institute of Science besuchte, kam wieder Bewegung in die Beziehungen. Zunächst in der Wissenschaft, dann aber auch in der Politik. Erst 1965 nahm die Bundesrepublik mit dem Staat Israel diplomatische Beziehungen auf. Von daher mag es so aussehen, als ob die Wissenschaften tatsächlich eine Vorreiterrolle gespielt haben.

Schönwälder: Ist zwischen 1952 und 1959 gar nichts passiert?

Diner: Oh doch! 1956 fanden Suez-Krise und Sinai-Krieg statt. Großbritannien, Frankreich und Israel griffen militärisch gemeinsam, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen Ägypten an. Auf Intervention der USA, auch der Sowjetunion, wurde das Unterfangen gestoppt. Israel begann sich stärker europäischen Staaten zuzuwenden, deren Einigungsprozess durch die Suezkrise beschleunigt wurde. Im März 1957 wurden die Römischen Verträge geschlossen und damit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Übrigens gleichzeitig auch die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM), was oft vergessen wird. Die europäische Nuklearforschung wurde verstärkt, vornehmlich im Interesse Frankreichs. 1957 erfolgte eine freilich geheim gehaltene Annäherung zwischen Israel und der Bundesrepublik im militärischen Bereich – eine Zusammenarbeit, deren Krise 1965 paradoxerweise zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen führen sollte. Bis zum Besuch der deutschen Wissenschaftsdelegation unter Otto Hahn 1959, war es dann nicht mehr weit. Natürlich gab es schon vorher informelle Kooperationen, etwa von Seiten des Technion in Haifa. Die Leitung des Technion wusste davon nichts. Israel wurde außerdem aufgrund des Wiedergutmachungsabkommens mit deutschen Gütern überschwemmt, mit Maschinen, Schiffen, Eisenbahnen – und so kamen deutsche Techniker und Mechaniker für die Montage nach Israel. Aber das waren Kontakte auf einer niedrigeren, rein technischen Ebene.
Otto Hahns Besuch war vor allem wegen seiner öffentlichen Beachtung wichtig! Darin liegt die große politische Bedeutung der sich daran anknüpfenden Wissenschaftsbeziehungen.

Frei: Der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy sagte nicht von ungefähr gleich 1949 zu Beginn seiner Amtszeit in der neu gegründeten Bundesrepublik, der Umgang der Deutschen mit den jüdischen Überlebenden werde der „Prüfstein ihrer Gesittung und ihres echten demokratischen Aufbauwillens“. Für Bundeskanzler Adenauer war die Kontaktaufnahme mit Israel eine politische Aufgabe, aber auch ein persönliches Anliegen. Mit dem Luxemburger Abkommen von 1952, für das Adenauer angesichts der Kritiker in den eigenen Reihen die Unterstützung der oppositionellen Sozialdemokraten brauchte, war diese Aufgabe aber erst einmal erledigt. Die Westintegrationspolitik hatte fortan Priorität.

Auch vergangenheitspolitisch waren die 1950er Jahre eine Phase der Stagnation. Erst gegen Ende des Jahrzehnts machten sich kritische Intellektuelle deutlicher bemerkbar, Leute wie Günther Grass, Martin Walser und natürlich die Frankfurter Schule. In den 1960er Jahren nahm die Debatte um die damals so genannte Vergangenheitsbewältigung dann zusehends Fahrt auf. Heute erscheint uns der Begriff, in dem ja mitschwingt, dass man mit der Vergangenheit final abschließen kann, problematisch; damals brachte er einen kritischen Anspruch zum Ausdruck.

Ich habe mir zur Vorbereitung auf unsere Veranstaltung noch einmal das berühmte Foto von Konrad Adenauer und Ben Gurion, aufgenommen 1960 im Hotel Waldorf Astoria in New York, angesehen. Es wird ja meist als erster Höhepunkt des Kontakts zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel interpretiert. Aus meiner Sicht markiert dieses Foto aber eher das Ende als den Beginn einer neuen Phase – nämlich das Ende jener Frühgeschichte, in der die deutsch-israelischen Beziehungen als ein vor der Öffentlichkeit verborgenes Projekt der Patriarchen und der politischen Elite realisiert wurden. Allerdings ist es nicht so, dass sich gesellschaftlich in den Jahren seit 1952 gar nichts getan hätte; natürlich waren schon damals einzelne Personen aktiv, aber das waren noch nicht jene gesellschaftlichen Kontakte, die später – etwa durch die Aktion Sühnezeichen – entstehen sollten.

Yfaat Weiss: Wir konzentrieren uns zum Anlass des 50-jährigen Jubiläums der deutsch-israelischen Beziehungen auf die bilateralen Momente. Das liegt in der Natur der Sache. Aber der Begriff „bilateral“ zeichnet das Bild: Hier treffen sich zwei verschiedene Einheiten. Das ist ein falsches Bild. Vor allem im Bereich der Geisteswissenschaften zeigt sich, dass es oft schwierig ist, eine deutliche Grenze zu ziehen zwischen dem Deutschen und dem Israelischen, beziehungsweise dem Eigenen und dem Fremden. Schon die Sprache, das Deutsche, hat in Israel vom Vorabend des Ersten Weltkrieges an eine ganz wesentliche Rolle gespielt. Bekannt ist hier vor allem der Sprachenstreit im Zusammenhang mit der Entstehung des Technion in Haifa. Damals ging es darum, ob sich die hebräische Sprache durchzusetzen könnte oder ob für Forschung und Wissenschaft andere europäische Sprachen, vor allem die deutsche, gebraucht werden sollten. Deutsch war tatsächlich in den ersten Jahren eine dominante Sprache, wurde aber am Technion durch Hebräisch ersetzt. Insofern gab es schon damals, lange vor 1933, ein gewisses Ressentiment gegen die deutsche Sprache.

Später, während der Nazizeit, flohen viele Wissenschaftler aus Deutschland nach Palästina. Schon 1933 wurde in Deutschland das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das es Deutschland ermöglichte, jüdische Beamte – also auch Professoren – aus dem Dienst zu entfernen. Viele der Wissenschaftler, die aus Deutschland vertrieben wurden, hatten bereits beachtliche Karrieren hinter sich. Sie brachten neben ihrem fachlichen Wissen auch deutsche institutionelle Traditionen und natürlich ihre Sprache mit in die neue Heimat. Von daher gab es eine gewisse Kontinuität zwischen der deutschen und der im Entstehen begriffenen Wissenschaftskultur im damaligen Palästina.

In der Nachkriegszeit gelangten umfangreiche Bibliotheken und Sammlungen, die vormals Juden in Deutschland gehört hatten und während der Zeit des Nationalsozialismus geplündert worden waren, auf den Wegen der Restitution nach Israel. Diese Bibliotheken und Sammlungen, die fast alle in den Bestand der Nationalbibliothek in Jerusalem aufgenommen wurden, bildeten den Grundstock für die geisteswissenschaftliche Forschung in Israel. Auch hier kam es zu einer Integration deutscher, beziehungsweise deutsch-jüdischer Kultur.

Die deutsche Sprache, die an der Hebräischen Universität seit 1934 nicht mehr gelehrt worden war, war die ganze Zeit über präsent. 1948 waren 50 Prozent der Professoren an der Hebräischen Universität vor 1933 an deutschen Universitäten ausgebildet worden. Erst in der jüngeren Vergangenheit kommt eine Generation von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf die Lehrstühle, welche die deutsche Sprache erlernen musste. Übrigens waren es die Orientalisten, die schon 1952 Deutsch als Unterrichtssprache forderten, weil ein Großteil der Forschungsliteratur damals noch auf Deutsch war.

Schönwälder: Wie war es möglich, dass sich in Israel Wissenschaftler fanden, die mit den Menschen und Institutionen, denen sie während der NS-Herrschaft ihre Vertreibung aus dem akademischen Leben zu verdanken hatten, kooperieren wollten? War das in den Naturwissenschaften, trotz ihrer Verwicklung in Rüstung und Verbrechen, leichter als in den Geisteswissenschaften, die erst viel später mit dem Aufbau offizieller Wissenschaftsbeziehungen begannen?

Diner: Die anfängliche Kooperation erfolgte im Bereich der theoretischen Physik und reiner Grundlagenforschung in anderen naturwissenschaftlichen Fächern. Durch das ausgesprochen Theoretische sollte vermieden werden, dass Techniker und anderes Personal mit den Vorgängen am Weizmann-Institut in Berührung kamen. In den Geisteswissenschaften herrschte absolute Funkstille. Die Geisteswissenschaften hatten ein ganz besonderes Problem: Fast alle israelischen Geisteswissenschaftler hatten einen deutschsprachigen Hintergrund, stammten, wenn nicht aus Deutschland, so doch aus der Tschechoslowakei, aus Österreich oder von osteuropäischen Universitäten, in denen Deutsch als Wissenschaftssprache hoch angesehen war. Damals war die deutsche Sprache eine kosmopolitische Wissenschaftssprache, in gewisser Hinsicht durchaus eine jüdische Sprache. Nach 1945 hat sich das verändert. Deutsch wurde nur noch als verhasste Kommandosprache wahrgenommen. Man wollte das Deutsche einfach nicht mehr hören. Unter israelischen Akademikern wurde allenfalls privat Deutsch gesprochen. Die Privatbibliotheken waren zwar voller deutscher Bücher, auch deutscher Literatur. Das war verständlich, aber in der Öffentlichkeit nicht legitim. Deshalb war es so schwierig, in den Geisteswissenschaften, echte, offene und offizielle akademische Kontakte aufzunehmen.

Und dennoch war das Deutsche präsent, aber dann doch sehr themenbezogen. Zwei Bereiche sind hier zu nennen: Die Holocaustforschung und die Erforschung der deutschen Arbeiterbewegung. Letztere war in den 1970er Jahren wichtig. Festmachen kann man das zum Beispiel an der Förderungspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung reichte jedenfalls tief. Fritz Naphtali, der Theoretiker der deutschen Gewerkschaftsbewegung und der Wirtschaftsdemokratie in Weimar, war in den 1950er Jahren unter dem Namen Perez Napthali in Israel Agrarminister. Er hat diesen Traditionsstrang in Israel repräsentiert und in die Nachkriegszeit überführt. So gut wie alle israelischen Historiker der älteren Generation wurden im Laufe ihrer Karriere von Institutionen wie der Ebert-Stiftung, also politischen Forschungsfördereinrichtungen, unterstützt. Und sie haben ihre großen Werke wesentlich auf Deutsch verfasst. Diese Einrichtungen, nicht die großen staatlichen und öffentlichen Wissenschaftsförderinstitutionen, haben den Humus bereitet für den späteren Erfolg der deutschen Geisteswissenschaften in Israel.

Aber all dies spielte sich doch eher im Verborgenen, im Zurückgezogenen ab. Noch in den 1980er und 1990er Jahren wurde auf Konferenzen über deutsche akademische Fragen in englischer Sprache verhandelt, obwohl die meisten der Beteiligten, eigentlich alle, über das Deutsche verfügten. Erst in den letzten Jahren hat sich das verändert. Deutsch ist heute akzeptiert.

Alles in allem darf man nicht vergessen: Israel ist auch ein Stück herausgerissenes Mitteleuropa. Und dieses herausgerissene Stück sucht sich seine Entsprechung. Insofern sind die deutsch-israelischen Wissenschaftsbeziehungen von besonderer Dichte und Intensität. Auch wenn diejenigen, die sie heute betreiben, sich dessen nicht unbedingt bewusst sind.


Karen Schönwälder ist Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Seit 2011 ist sie Professorin an der Georg-August-Universität Göttingen.

Dan Diner ist Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem und Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig.

Norbert Frei lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Yfaat Weiss ist Direktorin des Franz Rosenzweig Minerva Research Center. Von 2008 bis 2011 leitete sie die Fakultät für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.