Sincerely yours, Albert Einstein

Vor 100 Jahren wurde die Relativitätstheorie veröffentlicht – von einem Forscher, über den man sich nirgendwo sonst ein so umfassendes Bild machen kann wie im Albert-Einstein-Archiv der Hebrew University in Jerusalem.

Autorin: Julia Harlfinger

Wie Albert Einstein auf die Relativitätstheorie gekommen ist? Ganz einfach! Er hat lange und gründlich nachgedacht. „So jedenfalls hat es mir mein Vater erzählt”, sagt Roni Grosz. Abgesehen von diesem väterlichen Bonmot und flüchtigen Begegnungen im Schulunterricht hatte Grosz lange Zeit keine Berührungspunkte mit dem 1955 verstorbenen und wohl berühmtesten aller Forscher. Heute pflegt Roni Grosz das umfangreichste Einstein-Archiv der Welt: eine Wunderkammer mit zehntausenden Briefen und anderen Dokumenten – darunter auch das Originalmanuskript der Relativitätstheorie.

Der Weg dorthin war voller Wendungen: In seiner Dissertation widmete sich Grosz dem jüdischen Element in Sigmund Freuds Psychoanalyse und schloss damit sein Studium an der Universität Wien in Philosophie und Kommunikationswissenschaften ab. Schon während seiner Schulzeit an einem französischsprachigen Lycée in Wien hatte sich bei ihm keine Vorliebe für Physik oder Mathematik eingestellt. Statt Formeln war schriftliches Kulturgut seine Leidenschaft. Sie führte Grosz schließlich an die Österreichische Nationalbibliothek und ließ ihn zum Experten für Archivwesen werden. Er erlernte das Sammeln, Ordnen und Bewahren von Büchern, Landkarten, Papyri und Notenblättern.

Vom Suchen und Finden

Bereits Mitte der 1990er beschäftigte er sich intensiv damit, welche Rolle das Internet und Online-Recherchen für Archive künftig spielen könnten. Sieben Jahre lang baute er die Bibliothek des Jüdischen Museums der Stadt Wien auf, samt elektronischem Verzeichnis. Dabei hatte er immer ein Ziel vor Augen: Big Data in Information zu verwandeln, Verborgenes in benutzerfreundlichen Katalogen sichtbar zu machen. Und noch immer war Albert Einstein sehr weit weg.

Erst nachdem Roni Grosz Anfang 2000 samt Familie nach Israel umgezogen war („ein lang gehegter Wunsch von uns“) und für den Bibliotheks-Software-Entwickler Ex Libris arbeitete, kam Einstein in sein Leben. Eine Kollegin drückte Grosz eine Stellenanzeige in die Hand. „Ich sei bestens geeignet, meinte sie”, erinnert er sich. Das renommierte Albert-Einstein-Archiv an der Hebräischen Universität in Jerusalem suchte einen neuen Leiter. Seit Herbst 2004 sind Albert Einstein und gut 81.000 seiner Lebensdokumente der Fixpunkt in Grosz’ Leben.

Teppich aus Papier

Als Grosz im Archiv anfing, nahm er an, dass noch etwa 800 Briefe von und an Albert Einstein in der Welt „herumschwirren” und ihrer Entdeckung harren würden. Inzwischen geht er von etwa 8000 fehlenden Stücken aus. „Ein Ende ist nicht in Sicht, unser Ziel ist eine Sammlung der gesamten Einstein-Korrespondenz”.

Hartnäckig spüren Grosz und seine drei Kollegen Briefe auf, viele davon gezeichnet mit Sincerely yours, Albert Einstein. „Wenn die Dokumente nicht als Original ins Archiv kommen, sind wir mit einer digitalen Kopie zufrieden.” Auch hingekritzelte Gleichungen, Schnappschüsse, Notizbücher, Schulzeugnisse sowie Einsteins Privatbibliothek sind im Archiv aufgehoben und werden nötigenfalls restauriert. Die Objekte belegen Einsteins wissenschaftlichen Ideenreichtum. Sie zeugen von seinem humanitären Engagement und seiner politischen Vernetzung. Und sie erzählen davon, dass er ein Frauenheld und ein miserabler Vater war. „Wir weben an einem großen Teppich”, sagt Grosz.

Hunderte Nutzer aus aller Welt richten jedes Jahr ihre Anfragen an das Archiv. Über 72.000 User griffen 2014 auf die Website www.alberteinstein.info zu, viele von ihnen mehrmals, um mit den digitalisierten Objekten zu arbeiten. Die Zeiten, in denen derartige Sammlungen nur ausgewählten Personen Zugang gestatteten, seien zum Glück passé, betont Roni Grosz. „Forscher sind heutzutage gewöhnt, alles sofort, umsonst und per Mausklick auf ihren Bildschirm zu bekommen. Wir sind sehr entgegenkommend und unkompliziert beim Austausch von Wissen und Daten – das kann ich auch von unseren Kooperationspartnern behaupten.”

Verbindungen nach Deutschland

Dazu zählen etwa Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Mit einigen von ihnen verbindet Grosz eine jahrelange Zusammenarbeit. Auch sonst, so berichtet der Archivleiter, gibt es regelmäßig Anfragen von deutschen Institutionen wie dem Bundestag und dem Deutschen Museum in München.

Gelegentlich darf Ausstellungsmaterial aus den perfekt temperierten Speichern von Israel nach Deutschland reisen. „Wir sind offen für eine intensivere Zusammenarbeit und bereit für spannende Kooperationen mit Forschern aus Deutschland”, betont Grosz. Interessant könnten beispielsweise Einsteins Briefwechsel mit Max Planck, Werner Heisenberg und Thomas Mann sein.

Natur- und Geisteswissenschaftler, die extra nach Jerusalem reisen, um wie früher mit Bleistift Dokumente abzuschreiben, sind selten geworden. Nichtsdestotrotz empfängt das Archiv – Digitalisierung hin oder her – regelmäßig Personen, die Einsteins Nachlass in natura zu Gesicht bekommen möchten. „Wenn wir ihnen die Objekte bringen, dann stellt sich wie auf Abruf eine bestimmte Wirkung ein”, sagt Archivleiter Grosz. „Unsere Gäste bekommen weiche Knie, glasige Augen und sind ergriffen.”

Einstein für alle

Nicht nur für Forscher und Fans, sondern sogar für Rockstars und Diplomaten auf Israelreise stellt das Archiv immer wieder einen Anziehungspunkt dar. Oder für Imker, die einem mutmaßlichen Einstein-Ausspruch auf den Grund gehen wollen: Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben.

„Dieses Zitat ist einfach nicht totzukriegen”, sagt Roni Grosz. Er hat keine Hinweise darauf gefunden, dass der Physik-Nobelpreisträger es wirklich getätigt hat. Auch dem angeblichen Einstein-Spruch über das Nachdenken, den sein eigener Vater gerne humorvoll-mahnend einsetzte, ist Grosz nachgegangen – und konnte keinen Beleg aufspüren. Selbst ein handfester Beweis für Einsteins gern zitierte Linkshändigkeit war in der Fotosammlung des Archivs nicht aufzutun.

Um Albert Einstein, den „Mann des 20. Jahrhunderts”, wie das Time Magazine titelte, ranken sich also nach wie vor viele Mythen und Geheimnisse. „Ich lade die interessierte Öffentlichkeit ein, sich selbst ein Bild von Einstein machen”, so Grosz. „Vor allem deutschsprachige Menschen können sich den Forscher durch die vielen Online-Quellen selbst erschließen. Sie sind nicht unbedingt auf Information aus zweiter Hand angewiesen.”

Mensch zwischen den Zeilen

Ja, die Physik bleibe den meisten unzugänglich. Doch Einstein habe so viel mehr zu bieten. „Er hat zu politischen und sozialen Themen kein Blatt vor den Mund genommen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die Faszination für Einstein ungebrochen ist”, sagt Grosz und verweist auf die vom Archiv initiierte Einstein-Facebook-Seite. Sie hat 16 Millionen Follower. Die meisten von ihnen kommen aus Asien, insbesondere Indien.

Und wer ist Roni Grosz’ Einstein? „‚Mein’ Einstein ist jener, der sehr viel Anteil genommen hat am Schicksal anderer Menschen. Er hat Schulkindern auf Briefe geantwortet oder Physik-Studenten, die damit haderten, was mit falsch angewendeter Forschung passieren könnte. ‚Mein’ Einstein ist auch jener Mann, der währen der Naziherrschaft unermüdlich versuchte, jüdische Kollegen aus Europa heraus zu bekommen. Aus seiner Korrespondenz wissen wir, dass er viele befreundete Forscher und Unternehmer ansprach, um Juden eine Arbeitsmöglichkeit in Amerika und damit ein Visum zu verschaffen”, sagt Roni Grosz.

So schrieb Einstein 1935 aus der Universitätsstadt Princeton an die belgische Königin Elisabeth über seine privilegierte Position: „Ich schäme mich fast, in solcher Ruhe zu leben, während sonst alles kämpft und leidet.”