Autor: Jan Berndorff, Journalistenbüro Schnittstelle
PICO – das klingt nach einem kleinen sympathischen Kerl, vielleicht einem Fußball-Maskottchen. Allerdings ist PICO rund vier Meter groß und trägt seinen Namen nur, weil er in die Welt des Allerkleinsten schaut. Sein Name steht für Pikometer, den Millardstel Teil eines Millimeters. PICO ist das stärkste Elektronenmikroskop der Welt und tut seinen Dienst in einem Gebäude in Jülich, das sogar mit einem speziellen schwingungsfreien Fundament ausgestattet wurde, damit PICO nicht durch Vibrationen gestört wird, wie sie etwa der nur wenige Kilometer entfernte Braunkohletagebau oder auch vorbeifahrende Lastwagen auslösen.
Atome abbilden, die aus der Reihe tanzen
Mit PICO und einem Dutzend weiterer Elektronenmikroskope am „Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen“ (ER-C), das vom Forschungszentrum Jülich und der RWTH Aachen betrieben wird, dringen Wissenschaftler in Sphären des Nanokosmos vor, die der Menschheit zuvor verschlossen blieben: Sie können die atomare Struktur von Materialien sichtbar machen und genau nachvollziehen, warum sie gewisse Eigenschaften aufweisen und diese etwa bei Temperatur- oder Druckwechsel ändern. Das hilft enorm, um etwa die Speicherung und Verarbeitung von Computerdaten zu verbessern. „Zum Beispiel bestimmen Lageveränderungen von Atomen um wenige Pikometer die Eigenschaften moderner Transistoren“, sagt Rafal Dunin-Borkowski, einer der beiden Direktoren des ER-C. Auch neue Solarzellen oder Batterien lassen sich mithilfe der Elektronenmikroskopie entwickeln. Sowie neue Werkstoffe für verschiedenste andere Industrien: Die neue „Wundersubstanz“ Graphen etwa, Kohlenstoff in atomar dünnen Lagen, verfügt über viele erstaunliche und für verschiedenste Anwendungen vielversprechende Eigenschaften, die man genau verstehen möchte.
Mit PICO lässt sich Graphen genauer untersuchen als mit jedem anderen Mikroskop der Welt. Ob Materialwissenschaft, Energie- oder Computertechnik, sagt Joachim Mayer, der zweite ER-C-Direktor: „Wir gehen mit unseren Geräten globale Herausforderungen an.“
Die Auflösung von PICO beträgt 50 Pikometer. Das ist ein Zwanzigstel Nanometer und entspricht ungefähr dem Durchmesser eines Helium-Atoms. Um das ins Verhältnis zu bringen: Wäre der Durchmesser eines Haares (ein Zwanzigstel Millimeter) so groß wie ein Fußballfeld, so entspräche die Dicke (nicht die Breite!) eines Grashalmes auf dem Rasen dem Durchmesser eines Atoms in dem Haar. PICO und seine Kameradenkönnen also selbst die schmale Seite eines solchen Grashalms noch abbilden. Und Verschiebungen lassen sich sogar im Bereich von einem Pikometer erkennen.
Fehlsichtige Elektronenmikroskope
Normale optische Mikroskope sind dazu schon rein physikalisch nicht in der Lage: Die Wellenlänge des Lichts ist mit einigen hundert Nanometern einfach zu groß für eine solche Auflösung. Die Wellenlänge gebündelter Elektronenstrahlen dagegen, mit denen die ER-C-Mikroskope ihre Proben beleuchten, liegt bei Bruchteilen eines Nanometers. Dennoch erreichen herkömmliche Elektronenmikroskope nur rund 200 Pikometer Auflösung – genug für viele Anwendungen, aber eben nicht, um auch kleinste Atome und ihre Veränderungen zu erkennen. „Elektronenmikroskope leiden trotz ihrer Präzision unter ähnlichen Abbildungsfehlern – also Unschärfen – wie optische Mikroskope“, sagt Dunin-Borkowskis Mitarbeiter Peng-Han Lu. Die zwei wichtigsten seien der „Öffnungsfehler“, auch „sphärische Aberration“ genannt, und der „Farbfehler“ oder „chromatische Aberration“. Beim Elektronenmikroskop übernehmen elektromagnetische Felder die Funktion der optischen Linsen, um den Elektronenstrahl zu fokussieren. Auch dabei werden die Elektronen am Rand des Strahls stärker gebeugt als im Innern. Das ist der Öffnungsfehler. Außerdem werden energiereichere Elektronen anders gebeugt als energieärmere. Dies führt zum Farbfehler.
Bei optischen Mikroskopen lassen sich diese Fehler relativ leicht durch Zerstreuungslinsen korrigieren. Bei der Elektronenvariante jedoch braucht es dazu unheimlich komplizierte Apparate, die ins Mikroskop integriert werden. Für den Öffnungsfehler konntenin den 90er Jahren Ingenieure unter Mitwirkung von Jülicher Experten einen sogenannten Hexapol-Korrektor entwickeln, der sechs Magnetspulen enthält und inzwischen mehrere Elektronenmikroskope weltweit auf 80 Pikometer Auflösung korrigiert. Erst vor wenigen Jahren gelang die Korrektur des Farbfehlers durch ein noch komplexeres System aus magnetischen und elektrostatischen Multipol-Elementen. Über beide Korrektoren und somit 50 Pikometer Auflösung verfügen weltweit nur zwei Mikroskope: eines am Lawrence Berkeley National Laboratory in den USA und eben PICO in Jülich. Weitere werden aktuell gebaut – an der Universität Ulm etwa soll bald eines in Betrieb gehen.
Silizium-Nitrid-Brille für Elektronenmikroskope
Forscher rund um den Globus wollen daher mit den Jülichern zusammenarbeiten, um deren ultrapräzise Mikroskope zu nutzen. Ganz aktuell führen die Jülicher ein Projekt mit Kollegen aus Dresden, Ulm und Tel Aviv durch. Physiker von der Tel-Aviv University (TAU) entwickeln sogenannte Nanohologramme für Elektronenmikroskope. Das sind winzige maskenartige Membranen aus Silizium-Nitrid, mit denen sich der Elektronenstrahl für verschiedenste Zwecke nahezu beliebig formen und verändern lässt: Man kann ihn gezielt beugen, in Gitter-, Rillen- oder andere Muster aufspalten sowie Phase und Amplitude der Welle modifizieren.
Das könnte zum einen die komplizierten Korrektoren von Elektronenmikroskopen wie PICO ersetzen: „Unsere neue Methode wäre flexibler, kompakter und weit kosteneffizienter“, sagt Projektleiter Arie Ady von der Fakultät für Physik und Elektroingenieurswesen an der TAU. Außerdem könnten Nanohologramme enorm helfen, in der Halbleiter- und Computerindustrie die Fabrikation zu überwachen: Dort scannt man die immer winziger werdenden Schaltelemente auf Chips routinemäßig mit Elektronenstrahlen, um mögliche Defekte aufzudecken. Zum Beispiel, wenn eines der nur aus einer Handvoll Atomen bestehenden Elemente falsch sitzt.
„Einen Chip mit einem einzelnen Elektronenstrahl flächendeckend abzutasten, dauert Tage“, sagt Arie Ady. „Die Firmen reduzieren diese Zeit auf Stunden, indem sie mehrere Scanner einsetzen. Wenn wir nun aber den Strahl eines einzelnen Scanners mithilfe einer unserer Masken in 100 Strahlen aufteilten, würde das die Kontrollen enorm beschleunigen.“
Um ihre neue Methode auszuprobieren und zu optimieren, sind die Israelis auf die Elektronenmikroskope in Jülich angewiesen. „Solche leistungsstarken Mikroskope haben wir in Israel nicht. Und außerdem haben wir so die Gelegenheit, von unseren deutschen Partnern zu lernen. Sie sind einfach die Topexperten in der Elektronenmikroskopie.“
Mehr zur intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Forschungszentrum Jülich und israelischen Partnern finden Sie hier.