Faktor Mensch: Personale Netzwerke und die Entstehung der deutsch-israelischen Kooperation in den Geisteswissenschaften

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Gastautor: Ralf Grötker, Journalistenbüro Schnittstelle

Im Projekt „The German-Israeli Research Cooperation in the Humanities (1970-2000): Studies on Scholarship and Bilaterality” untersuchen Wissenschaftlerinnen des Van Leer Jerusalem Institute, des Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrums an der Hebräischen Universität Jerusalem und des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main gemeinsam die Anfänge der deutsch-israelischen Forschungskooperation auf dem Gebiet der Geschichts- und Literaturwissenschaft.

„Eines unserer Anliegen ist, herausfinden, wie sehr die wissenschaftlichen Interessen in den Geisteswissenschaften überlagert waren von politischen Motiven“, erklärt Irene Aue-Ben-David, die das in diesem Frühjahr gestartete Projekt vom Van Leer Jerusalem Institute aus koordiniert. Aue-Ben-David hat bereits eine wissenschaftsgeschichtliche Doktorarbeit über die Historikerin und Mitbegründerin des Leo Baeck Instituts Selma Stern verfasst und als Postdoc über den deutsch-jüdischen Philosophen und Literaturkritiker Constantin Brunner geforscht. Das Untersuchungsmaterial, mit dem Aue-Ben-David und weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich im Projekt „The German-Israeli-Cooperation in the Humanities (1970-2000)“ befassen, besteht hauptsächlich aus Archivmaterialien wie zum Beispiel Korrespondenzen und Konferenzberichten und aus teils geplanten, teils bereits realisierten Interviews mit führenden Vertretern der Geschichtswissenschaft und der Germanistik, die sich seinerzeit beim Aufbau der deutsch-israelischen Forschungskooperation engagiert hatten.

Nachzügler Geisteswissenschaften

Im Unterschied zu der Forschungskooperation in den Naturwissenschaften, die bereits in den 1950er Jahren begann (siehe: Geschichte der deutsch-israelischen Wissenschaftskooperation), kam es in den Geisteswissenschaften erst in den 1970er Jahren zu ersten gemeinsamen Vorhaben. „Wir wollen die Gründe für diese Ungleichzeitigkeit herausfinden“, erläutert Aue-Ben-David.

„Von dem, was wir bislang aus der Sichtung von Schriftwechseln erkennen konnten, zeigt sich, dass die Kontakte in den Naturwissenschaften in den 1970er Jahren schon sehr viel intensiver waren, in den Geisteswissenschaften war man noch eher tastend.“ Dazu müsse man wissen, dass in den frühen 1960er Jahren in Israel Richtlinien speziell für die Beziehungen zu Deutschland in den Sektoren Bildung und Kultur ausgearbeitet wurden. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen im Parlament. Die Folge war, dass Bestimmungen verabschiedet wurden, die eine Zusammenarbeit mit Deutschland auf diesem Gebiet nur beschränkt zuließen.

Gegen politische Widerstände

An der Hebräischen Universität Jerusalem gab es noch Jahre später eine starke Kritik an der 1977 erfolgten Einrichtung eines Lehrstuhles für Deutsche Sprache und Literatur. „Ich habe für unser Forschungsprojekt ein Interview mit der aus Deutschland stammenden Literaturwissenschaftlerin Alice Shalvi geführt, die bei der entscheidenden Sitzung zur Abstimmung über die Errichtung des Lehrstuhls dabei war“, berichtete Aue-Ben-David. „Sie hat mir erzählt, dass sie völlig überrascht war angesichts des Widerstandes, der in der Fakultät auf einmal hochkochte. Ihrer Ansicht nach war es auch ein Konflikt zwischen den deutschen Juden und den aus Osteuropa stammenden Juden. Solchen Hinweisen werden wir natürlich weiter nachgehen.“

Auf Basis der Interviews und der Auswertung von Archivmaterialien entsteht schrittweise so etwas wie ein historisches Soziogramm: eine Darstellung von personalen Netzwerken in der Wissenschaft. Ein solches Soziogramm erleichtert es, die zentralen Knotenpunkte und ihre direkten und indirekten Einflussmöglichkeiten zu identifizieren und Gruppen von besonders stark miteinander verknüpften Akteuren zu erkennen. Interessant sind dabei vor allem die verschiedenen Relationen, welche die Elemente des Netzwerkes miteinander verbinden.

Ein historisches Soziogramm

Von Deutschland her bestand in den Geisteswissenschaften sowohl auf der Ebene von Institutionen wie von Personen ein starkes Interesse an einer Zusammenarbeit mit israelischen Forschern. „Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne, der der Hebräischen Universität Jerusalem als Berater beim Aufbau der Germanistik zur Seite stand, erhoffte sich zum Beispiel Rückwirkungen auf die Aufarbeitung der NS-Geschichte des Faches Germanistik in Deutschland. „Ähnlich äußerte sich auch der Historiker Jürgen Kocka“, berichtet Aue-Ben-David.

Die bereits geführten Interviews deuten darauf hin, dass das Interesse und die Wahrnehmungen von Wissenschaftlern, die sich persönlich für den Aufbau der deutsch-israelischen Beziehungen engagiert haben, stark von ihrer Generationenzugehörigkeit geprägt war. Während die ältere Generation der Deutschen sich in Israel oft sehr unsicher gefühlt habe, stellte sich die Ausgangslage für die jüngere Generation ganz anders dar, berichtet Aue-Ben-David.

An jüdischen Themen per se bestand in Deutschland von Anfang an ein großes Interesse. So wurde bereits 1963 an der theologischen Fakultät der Freien Universität Berlin ein Institut für Judaistik gegründet; weitere Gründungen folgten in Köln (1966) und in Frankfurt am Main (1970). Schon vorher, in den 1950er Jahren, waren auf Betreiben zahlreicher lokaler Initiativen außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zur deutsch-jüdischen Geschichte ins Leben gerufen worden, darunter die Spezialbibliothek Germania Judaica in Köln (1959) und das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg (1966).

„Eine große offene Frage in unserem Forschungsprojekt ist, ob die zahlreichen Gründungen von Forschungseinrichtungen zu jüdischen Themen in Deutschland tatsächlich etwas mit der Kooperation mit Israel zu tun hatten, oder ob diese ausschließlich auf dem Boden der damals boomenden Erinnerungskultur entstanden waren“, erläutert Jenny Hestermann vom Fritz Bauer Institut. Während Irene Aue-Ben-David den Einfluss Deutschlands auf die israelischen Geisteswissenschaften untersucht, geht Hestermann den umgekehrten Weg: Sie erforscht den Einfluss der deutsch-israelischen Kooperation auf die Geisteswissenschaften in Deutschland. Hestermann hat die letzten vier Jahre in Israel verbracht: Als Doktorandin an der TU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem hat sie eine Dissertation über Staatsbesuche deutscher Politiker in Israel verfasst.

Wie Wissen wandert

Hestermann befasst sich vor allem mit Mechanismen des Wissenstransfers. In anderen Bereichen wie etwa in der Entrepreneurship-Forschung ist der Transfer von Wissen, Informationen und praktischem Know How bereits seit einiger Zeit ein gut etabliertes Untersuchungsfeld: Dort versucht man durch die Beobachtung von regionalen Clustern herauszufinden, auf welchem Wege Wissen aus der Forschung in die Wirtschaft ‚überschwappt‘. Spillover nennt man diesen Vorgang. In den Geisteswissenschaften weiß man über vergleichbare Effekte noch sehr wenig – obwohl „Spillover“ der Mechanismus ist, welcher sowohl verantwortlich ist für das in jedem Evaluationsbericht gern hervorgehobene Wirken der Wissenschaft in die Gesellschaft hinein wie auch in die weitere akademische Fachöffentlichkeit.

Das Vorhaben, Spuren eines Wissenstransfers von Israel nach Deutschland zu rekonstruieren, erweist sich jedoch als nicht ganz einfach. Während es in Israel mittlerweile zwölf Institute gibt, die sich mit der Kultur und der Geschichte Deutschlands befassen, existiert in Deutschland – im Gegensatz zu den vielen Einrichtungen zur Erforschung der jüdischen Religion – nur ein einziges, kleines Institut zur Kultur und Geschichte des israelischen Staates: Das soeben eröffnete Zentrum für Israel-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Der Transfer von Personen, Themen und Wissen von Deutschland nach Israel ist relativ gut dokumentiert. Andersherum ist es schwieriger, weil auf institutioneller Ebene einfach nicht so viel passiert ist. Ich versuche momentan, aus alten Seminarplänen und Veranstaltungsankündigungen zu rekonstruieren, wo vielleicht einmal ein Seminar oder ein Doktorandenvortrag von israelischen Gastwissenschaftlern in Deutschland stattgefunden hat. Von dort aus ist es vielleicht möglich, weitere Verläufe zu rekonstruieren.“

Im kommenden November ist ein erstes Kolloquium im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojekts in Jerusalem geplant; im Sommer 2016 soll eine größere Tagung in Frankfurt stattfinden. Am Ende werden die Ergebnisse in zwei Monografien verdichtet, die von den beiden Wissenschaftlerinnen Irene Aue Ben-David und Jenny Hestermann verfasst werden.

Chronologie: Eckpunkte der deutsch-israelischen Kooperation in den Geisteswissenschaften

1953Wiedereinführung des deutschen Sprachunterrichts an der Hebräischen Universität (1934 war der Unterricht der deutschen Sprache an der Universität eingestellt worden)
1958Erste Reise Otto Hahn und Wolfgang Gentner nach Israel zur Verhandlung einer naturwissenschaftlichen Forschungskooperation
1959 Beschluss einer Kooperation mit dem  Weizmann- Institut in Rechovot mit Geldern der Max-Planck-Gesellschaft
1964 Errichtung der Minerva-Stiftung aus Mitteln der Max-Planck-Gesellschaft, gefördert durch das BMBF 
1965 Aufnahme diplomatischer Beziehungen und Botschafteraustausch zwischen Israel und der Bundesrepublik
1971 Gründung des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv, unter Leitung von Walter Grab, mit einer Anschubfinanzierung durch die Volkswagen Stiftung
1977Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur an der Hebräischen Universität, unter Leitung von Stéphane Moses, mit einer Anschubfinanzierung durch die Volkswagen-Stiftung
1977Lehrstuhl für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität, unter Leitung von George Mosse
1980 Gründung des Richard Koebner Minerva Zentrums an der Hebräischen Universität
1986Gründung der Deutsch-Israelischen Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung durch die Wissenschaftsministerien beider Staaten                   
1990Gründung des Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem unter Leitung von Stéphane Moses
1991Gründung des Helmut Kohl Instituts für europäische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem
2001Gründung des Bucerius Instituts zur Erforschung der deutschen Geschichte und Gesellschaft an der Universität Haifa, finanziert durch die ZEIT-Stiftung
2007Eröffnung der DAAD-Zentren für Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem und für Deutschland- und Europastudien an der Universität Haifa 
2008Gründung des Zentrums für österreichische und deutsche Studien an der Ben Gurion Universität in Beer Sheba
2012Eröffnung des vom BMBF geförderten Zentrums für jüdische Studien Berlin-Brandenburg